Gerhard Haase-Hindendenberg liest aus seinem neuen Buch
Zeichen setzen für Israel und sich an Literatur erfreuen
Gerhard Haase-Hindendenberg liest aus seinem neuen Buch
Zum Gedenken an den 85. Jahrestag der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 fand an der WvO-Dillenburg am 8.11.2023 eine Autorenlesung statt. Organisiert hatten die Veranstaltung wieder einmal das Dillenburger Gymnasium und die GCJZ Dillenburg.
Als Gastgeberin begrüßte Studiendirektorin Kerstin Renkhoff die Gäste und betonte, dass wir uns in einem besonders wichtigen Moment der Zeitgeschichte befänden. Am 7. Oktober hätten die Hamas-Terroristen Israel angegriffen. Bei dem Angriff seien über 1.100 Juden getötet, über 5.400 verletzt und rund 240 entführt worden. Das Besondere dieser Attacke bestehe darin, dass zum ersten Mal nach dem Holocaust derart viele Juden an einem Tag ermordet worden seien. Besonders abstoßend sei die Bestialität des Mordens und die sexuelle Gewalt, die gezielt gegen Jüdinnen eingesetzt wurde. Aber auch Babys und Kleinkinder seien von den Terroristen nicht verschont worden. Und fast genau einen Monat danach, so Renkhoff weiter, würden wir uns im WvO-Atrium versammeln, um unsere Solidarität mit Israel und den Juden zu bekunden, und um einfach Flagge zu zeigen. Es dürfe keinen Platz für Antisemitismus geben – egal ob von recht oder links. Dieser Hamas-Angriff erfordere Solidarität aller aufrichtigen Menschen – weltweit.
Dr. Christoph Münz –Mitveranstalter der Autorenlesung und zugleich einer der Vorsitzenden der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Dillenburg - zeigte sich bei seiner Begrüßung tief beschämt und betroffen zugleich. Er ging auf die aktuelle politische Lage in Deutschland und international ein und beklagte, dass 78 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer noch Polizisten in Deutschland jüdische Einrichtungen beschützen müssten. Auch die heutige WvO-Veranstaltung sei in dieser Hinsicht keine Ausnahme.
Der Autor und sein Buch
Nach dieser Einführung begann Gerhart Haase-Hindenberg, aus seinem 2021 erschienenen Buch „Ich bin noch nie einem Juden begegnet ...” vorzulesen. Er beschreibt darin jüdische Schicksale, die immer einen Bezug zu Deutschland haben. Es geht überwiegend um die Zeit nach 1945 und um die zweite und die dritte Generation nach der Shoah. Juden, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind; solche, die nach Deutschland emigriert sind oder auch nur durch das Elterhaus sprachlich, bzw. kulturell zu Deutschland einen Bezug haben, das Land aber selten oder noch nie besucht haben.
Um einen kleinen Eindruck vom Buch - aber auch von der Abendveranstaltung zu geben, werden hier Beispiele von drei Jüdinnen vorgestellt.
Zum Beispiel Lissi Kuhn aus Berlin. Ihre Mutter war persönliche Sekräterin von Carl Benz und ihr Vater betrieb ein floriendes Holz-Unternehmen. Als Kind führte sie also ein gutbürgerliches, sorgloses Leben.
Nach 1945 studierte Lissi in Mainz Psychologie und arbeitete später in Basel für eine kirchliche Organisation. Sie wurde aber immer kritischer der Kirche gegenüber und wollte das Alte Testament auf Hebräisch lesen. So fing sie mit dem Erlernen dieser Sprache an und in diesem Zusammenhang entstand ihr Wunsch, Jüdin zu werden. Dies musste aber entsprechend vorbereitet werden: die Schiurim (Auslegungen der Schriften) und der Giur-Unterricht (Unterricht zum Judentum) waren notwendig.
Bei ihrer ersten Israel-Reise kam es zu einer schicksalshaften Begegnung mit Siegfried Hirsch – dem Gründer von Kfar Tikva, einer ähnlich einem Kibbuz organisierten Einrichtung für behinderte Menschen. Von nun an betreute sie pflegerisch und psychologisch jahrzehntelang die dortigen Bewohner. Sie wurde ein Teil der israelischen Gesellschaft und bekam ganz selbstverständlich Einladungen zu allen jüdischen Festen – war rein nominell aber eine Christin. Erst im Alter von 91 Jahren und sechs Monaten wurde sie von dem Biet Din (Allgemeine Rabbinerkonferenz) zu einer Jüdin erklärt und somit ins Judentum aufgenommen. So erfüllte sich der innige Wunsch von Lissi und schloss sich der Kreis.
Polina Pelts war ein anderes Bespiel bei der Lesung. Polina war eine Jüdin, die 1992 aus der UdSSR nach Deutschland eingewandert ist. Geboren wurde sie in einem kleinen ukrainischen Dorf. Ihr Vater kämfte in der Roten Armee und ist in Stalingrad gefallen. Nach dem Abitur wollte sie Deutschlehrerin werden – aber aus ihr nicht genannten Gründen wurde sie von den sowjetischen Behörden nicht zum Deutschstudium zugelassen.
Später studierte sie Maschinenbau und arbeitete in einem wissenschaftlichen Institut in Odessa. Religion war in der Sowjetunion offiziell nicht verboten, aber die Behörden sahen religiöse Praktiken nicht gerne. Ihre Mutter und Tante wussten etwas über Judentum – sie selbst aber kaum. Polina traf in der Sowjetunion viele Juden, aber man sprach nicht über eigene Traditionen und die Religion. Erst nach 1992 – nach der Aussiedlung in die BRD nach Hameln – hat sie ihr Judentum frei ausgelebt.
Dies gelang dank der US-amerikanischen Jüdin Rachel Dohme, die aus familiären Gründen nach Hameln gezogen war und dort damit begann, den sowjetischen Juden deren Religion zu lehren. So wurde das jüdische Leben in Hameln wiederbelebt – auch das von Polina.
2011 wurde die Synagoge der liberalen Gemeinde eingeweiht. Polinas Kinder, Enkel und Urenkel werden jüdisch erzogen. Die Hilfe, die Polina von Rachel Dohme erhalten hat, wird sie nie vergessen und sie will etwas davon zurückgeben. Sie unterrichtet Deutsch für ältere Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Das ist ihre Mitzwa – wie sie sagt. Sie ist also im Alter doch noch Deutschlehrerin geworden.
Das Buch von Haase-Hindenberg ist in sieben Kapitel unterteilt und beschreibt das Leben jüdischer Menschen, wie es sich auf der ganzen Welt abspielt. Der Dreh- und Angelpunkt der Lebensgeschichten ist Deutschland – oder die deutsche Kultur. Der Autor hat für dieses Buch die Protagonisten interwievt.
Einige dieser Geschichten wurden schon vorher in der „Jüdischen Allgemeinen” veröffentlicht.
Bei der Autorenlesung bekam man das Gefühl, dass der Autor immer das Ungewöhnliche, Unerwartete sucht und beschreibt. Gibt es keine „ruhige” und „normale” jüdische Familie – oder Leben(?) – fragt man sich unwillkürlich. Ohne Migration, Unterdrückung, Flucht und andere Dramen? Doch – die gibt es sicherlich, aber nur durch das Außergewöhnliche konnte ein interessantes Buch entstehen.
Fazit
Der Autor signierte zum Schluss der Lesung sein Buch. Dem Vortrag haben ca. 100 Besucher unterschiedlichen Alters gespannt zugehört. Das Publikum stellte viele Fragen, die sich auf das Buch, aber auch auf das Berufsleben des Autors bezogen. Er war in seinen Antworten offen, direkt und reflektiert, manchmal auch ein wenig ironisch.
Die Autorenlesung hat am besten der Mitinhaber der Buchhandlung Rübenzahl Johannes Eckert zusammengefasst:
„Ich dachte, ich hätte mich gut auf diese Veranstaltung vorbereitet, denn ich habe 16 Exemplare des Buches mitgebracht. Und wenn es gut läuft, muss ich vielleicht fünf unverkaufte wieder zurücknehmen - dachte ich mir. Weit gefehlt - ich hätte noch locker mehr verkaufen können. So groß war die Nachfrage.”
Gerhard Haase-Hindenberg liest aus seinem Buch über jüdische Menschen in Deutschland nach 1945
Einen Artikel zur Veranstaltung finden Sie außerdem hier:
https://www.mittelhessen.de/lokales/lahn-dill-kreis/dillenburg/lebensgeschichten-juedischer-menschen-beruehren-die-zuhoerer-3033013